Christchurch für Chranke

Ich hab relativ gut geschlafen und fühle mich am Morgen bereit für ein Frühstück. Ich schaffe eine ganze Scheibe Toast und eine Tasse Tee, aber immerhin. Und weil ich mich heute nicht groß anstrengen will bietet sich eine Stadtrundfahrt mit der Tram Car an. Mehrere historische Straßenbahnwagen fahren den ganzen Tag etwa alle Viertelstunde einen Rundkurs durch die Stadt, und die Fahrer erklären währenddessen was man sieht, nicht mehr sieht oder noch nicht sieht.

Jetzt macht sich die Lage des Hotels mal ganz praktisch bezahlt, denn die erste Station und das Ticketoffice befinden sich in der Cathedral Junction, einer kleinen Mall gleich nebenan. Ich bin um 9 Uhr da und möchte eigentlich gleich die erste Tram nehmen, die ist aber schon komplett mit Chinesen besetzt. Überhaupt sieht man hier sehr, sehr, also wirklich sehr viele Chinesen, das hängt glaube ich mit dem chinesischen Neujahrsfest Ende Januar zusammen, da nehmen viele Urlaub. Ich lasse die erste Tram ziehen und nehme die nächste. Und in dieser Tram Car bin ich mal wieder eine ganze Zeit lang der einzige Passagier und bekomme von dem netten Fahrer, der aussieht wie der Nikolaus im Nebenjob, eine Privattour.

Ich habe zwar gestern schon die Bus-Stadtrundfahrt gemacht, aber ich erfahre trotzdem auf der Tram-Tour noch viel Neues. Zum Beispiel weiß der Nikolaus Zahlen zum Ausmaß der Zerstörung: Zwischen 70 und 80 Prozent des gesamten Innenstadtbereichs wurden schon bzw. werden noch abgerissen, insgesamt über 1400 Gebäude. Die neue Höhenbegrenzung für Neubauten beträgt 28 Meter, das macht zwischen 5 und 6 Stockwerke, einzige Ausnahme sind Grundstücke für die nach viel Bürokratiekram eine Ausnahmegenehmigung erwirkt wurde, aber das sind extrem seltene Ausnahmen. Neue Gebäude müssen natürlich quake proof sein, und ich höre hier das erste mal von base isolation, einer Art Gummipuffer für Gebäude. Ich erfahre dass es die Holzhäuser waren, die die Beben am besten überstanden haben, und dass gemauerte Gebäude kaum eine Chance haben weil der Mörtel einfach zerbröselt.

Der Nikolaus ist wirklich süß. Eine junge Familie möchte gern mitfahren, macht aber einen Rückzieher weil den Eltern der Preis zu hoch erscheint. Während die Eltern dem Fahrer grade erklären dass sie lieber doch nicht mitfahren möchten sind die drei Kleinen schon längst in der Tram drin und jubeln über alles was sie sehen, die Holzsitze, den Fahrerstand mit dem altmodischen Steuerrad und der Glocke, die Bronzelaternen …

Die drei Stöpsel werden von den Eltern wieder herausgeklaubt, aber dem Nikolaus tut das sichtlich leid. Bei der nächsten Haltestelle ist Richtungswechsel, weil dahinter mal wieder ein Bauzaun steht (typisches Bild hier),

und als wir nach dem Richtungswechsel weiterfahren überholen wir die junge Familie von eben. „Excuse me Madam,“ sagt der Nikolaus höflich zu mir, hält auf freier Strecke an und bietet der Familie an, bis zur nächsten Haltestelle kostenlos mitzufahren. Quiekend sind die Kinder drin bevor die Eltern „thank you“ sagen können, setzen sich hinter den Fahrer um alles genau zu sehen was der da macht, und während der 30 Sekunden bis zur nächsten Haltestelle ist kein Wort vom Stadtführungskommentar zu verstehen weil die Kinder so begeistert sind.

Ich drehe eine komplette Runde, aber der einmal gelöste Fahrschein gilt den ganzen Tag, man kann so oft hop-on hop-off machen wie man möchte. Ich gehe also erstmal zufuß zum Latimer Square, wo die Cardboard Cathedral steht, um mir die in Ruhe anzusehen.

Wirklich ganz erstaunlich, dass beschichtete Pappröhren ein ganzes Dach halten können.

Danach brauche ich nur ein paar Minuten bis zur nächsten Tram-Haltestelle zu gehen und mich in die nächste Tram Car zu setzen, und so komme ich fast ohne Anstrengung bis zur Haltestelle vor dem Botanischen Garten. Den habe ich gestern nur sehr eingeschränkt wahrgenommen, weil ich da eigentlich nur noch in mein Bett wollte. Beim heutigen Durchgang bleibt es zwar bei der Einschätzung, dass die Anlage für den Blumenfreund nichts Besonderes oder Außergewöhnliches zu bieten hat, englische Rasenflächen mit rechteckigen Beeten, geometrisch bepflanzt, nur die herbacious border die zum Rosengarten führt bietet gepflegten Wildwuchs. Die Bäume aber stechen ins Auge, einige sind riesig und haben enorme verwachsene Stämme.

Und ein bisschen Kunst gibts hier auch.

Inzwischen ist es Mittag geworden, und diesmal möchte ich auch wirklich was essen, aber nur eine Kleinigkeit. Ich wandere zurück zum Arts Centre, das in der ehemaligen Canterbury University untergebracht ist (Canterbury ist die Provinz, in der Christchurch liegt), dort befindet sich in einem Teil des Gebäudes das Café Bunsen. Ja, der Bunsen. Und genau so sieht das Café auch aus

Es gibt ein leckeres Spinach Bacon Pinwheel mit frisch gepresstem O-Saft.

Und Unterhaltung gibt’s kostenlos dazu, im Moment findet hier nämlich das World Buskers Festival statt, ein Festival der Straßenkünstler, und vom Café Bunsen hat man einen schönen Blick auf eine der zahlreichen Bühnen, die über die Stadt verstreut sind.

Ich setze mich wieder in die Tram Car und fahre nochmal mit bis zur Re:START Mall, denn gleich gegenüber liegt Quake City, ein vom Canterbury Museum gestaltetes Erdbebenmuseum. Hier gibt es neben aus dem Schutt geretteten Gebäudeteilen, zum Beispiel den Turmhahn der Cathedral, viel gut dargestellte Info zu den Erdbeben in der Region Christchurch überhaupt, aber hauptsächlich natürlich zu den Beben von 2010 und (schwerpunktmäßig) 2011. Es gibt Audioausschnitte aus Radio-Sondermeldungen, Video-Schnipsel aus den News-Sondersendungen von damals, und einen über einstündigen Film mit Zeitzeugenberichten, für den man auch als Nichterkälteter eine Packung Taschentücher dabeihaben sollte. Es gibt aber auch viel Dokumentation über den Neuaufbau und über die Erdbebensicherung von Gebäuden. Hier kann ich nun selbst sehen, wie eine base isolation aussieht: Ein vielleicht 50 Zentimeter dicker Gummipuffer zwischen Stahlplatten. Das neue Gebäude steht auf vielen dieser Puffer, und die base isolation soll bewirken dass das Gebäude die Schwingungen mitmacht ohne sich zur Seite zu neigen, wie so eine Art Stoßdämpfer für Häuser. Sehr interessant ist ein unauffälliger kleiner Bildschirm mit Internetverbindung zur Erdbebenwarte, wo man alle registrierten Erdbeben in Neuseeland dokumentiert findet. Es sind mehrere pro Tag, seit ich in Christchurch angekommen bin etwa 10 Stück, von weak über light bis medium, alle auf der Südinsel im Bereich Seddon/Kaikoura. Und was haben wir davon wahrgenommen? Nix.

Hinterher gehe ich noch ein bisschen Stadtkunst anschauen,

lese mich in einem Bookshop fest, verbringe eine Stunde im Kaufhaus Ballantynes ohne etwas zu kaufen, stolpere über einen feschen Oldtimer,

und lasse mich von der Tram zur New Regent Street fahren, wo ich mir ein Paar Jadeohrringe schenke, New Zealand made.

Dafür gibts beim Abendessen die Sparversion, in einem kleinen Thai-Imbiss gleich neben dem Hotel, und zwischen zwei Gabeln Rindfleisch-mit-Ananas-und Erdnusssoße buche ich mein Programm für morgen.

Ich musste zwar nochmal Taschentücher nachkaufen, weil der Verbrauch immernoch hoch ist, aber sonst hält es sich eigentlich in Grenzen, der Hals bekriegt sich wieder (vermutlich schon deswegen weil ich ja nicht reden muss, außer vielleicht mal „Thank you“ oder „Excuse me“). Morgen geht’s in die Antarktis, aber der Veranstalter versichert, dass die Antarktis auf 22 Grad Celsius eingestellt ist. Plus, natürlich. Und abends ist ja ohnehin Wellness durch Wärme gebucht.

Wetteronline sagt für morgen durchgehend Regen voraus. Aber mit dem Programm kann mir das ja herzlich egal sein.

 

2 Gedanken zu „Christchurch für Chranke

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